Und plötzlich bist du Teil des großen Ganzen

In der neuen Ausstellung „Als würden allein diese Bilder bleiben. Edward S. Curtis – Will Wilson“ im Kunstwerk Nussdorf, Eberdingen, verbinden sich Zeiten, Kulturen und Menschen.

Ich betrete zum ersten Mal die Kunstwerksammlung und auch erstmalig eine Kunstausstellung. Wenige Meter weiter werde ich freundlich gefragt, ob ich die Führung buchen möchte, was ich bejahe. Als die Führung startet, sehe ich wieder die Frau, bei der ich meine Karte gekauft habe. Ich bin Laie, was
Ausstellungen angeht und denke mir, das ist also die Führerin. Sofort vom Gedankengang gefolgt: „Darf man so eine Bezeichnung heutzutage noch denken?“. Nur wenige Minuten später erwähnt Valeria Waibel, die Sammlungsleiterin, den Diskurs um die Bezeichnung Indianer und die Winnetou-Debatte im Hinblick auf Diskriminierung und Sprache. Das ist das erste WOW in meinem Kopf. Ich bin heute zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Als die Führung die Etage wechselt, schaue ich nur eine Millisekunde auf eine riesige Leinwand zwischen den Etagen und der Blick des gemalten Mannes geht tief in meine Seele. Ich zücke das Handy und fotografiere die Leinwand im wechselnden Spiel von Schatten und Licht, das durch die
halbgeschlossenen Jalousien fällt. So passend mit dem teilweisen Licht, hier auf halber Etage zwischen den Zeiten von Vergangenheit und Gegenwart inmitten einer laufenden Führung. Schnell eile ich den anderen Gästen hinterher, denn ich bin sehr gespannt auf die künstlerischen Betrachtungen der indigenen Kultur von Curtis.

In tiefer Stille und Harmonie versunken

Nun sehe ich liebevoll-romantische Fotografien von Indianern und ihrer Lebensweise. Jedes einzelne Bild scheint in tiefer Stille und Harmonie versunken zu sein und dennoch strahlt der Porträtierte Präsenz aus, die mich als Betrachter zugleich magisch umwebt. Die Bilder greifen meine innerlichen Vorstellungen von dem ursprünglichen, teils beschönigtem, Leben in der wilden Natur auf. Die vielen einzelnen Kunstwerke von Curtis sind nicht nur eine Momentaufnahme, sondern werden durch die Fülle der Jahre, die er selbst für diese Zusammenstellung benötigte, zu einem Leben verbunden, von dem ich als Besucher der Ausstellung unweigerlich ein Teil werde.

Im Zuge der Führung wird mir als Trainerin der Wahrnehmung und Autorin auch bewusst, wie viel führende Kraft in einem einzigen individuellen Blick auf die Welt liegen kann, wenn er anderen Menschen, verbunden mit Emotionen, kreativ zugänglich gemacht wird.

Jetzt geht es um die Menschen vor der Kamera

Ein weiteres Mal gehen wir nach oben, wechseln aus der Historie in die zeitgenössische Anschauung. Das erste Bild, das ich beim Betreten sehe, macht mir sofort klar, jetzt geht es um die Menschen vor der Kamera. Durch Will Willson berichten nun Nachfahren, der von Curtis porträtierten Menschen. Sie erzählen voller Stolz und Dankbarkeit von ihrer Herkunft, der liebevollen Naturkraft, direkt aus ihrem Leben – in seiner Schönheit, aber auch in seiner existenziellen Härte. Über die Bildnebentexte kann der Besucher die nachwirkende Kraft von Sprache selbst erleben, auch sind akustische
Animationen möglich.

Zu den romantischen Bildern von Curtis gesellen sich nun die authentischen Geschichten durch Willson, die dem Betrachter die Diversität der Ausstellung explizit vor Augen führt. Zugleich kann dieser Wechsel als Einladung verstanden werden, neben den eigenen und bereits entstanden Bildern
auch neuen Aspekten gewahr zu werden.

Eins-Sein inmitten der Fremde

Plötzlich klingt Geigenklang durch die Kunsthalle. Eine zauberhafte Energie des Eins-Seins durchströmt mich. Ich höre diese zarte Melodie, eine Animation zu einem anderen Bild, und lese die Worte des Bildes vor mir „Ich rufe den Ort im Herzen eines jeden Wesens, dass wir alle Teil des Wandels werden. Dass wir alle unser wahres Selbst finden.“ Ein absoluter WOW-Moment, denn diese Worte sind ein Fingerzeig auf meine eigene Geschichte – nie hätte ich für möglich gehalten in Ausstellungsobjekten einer Kunsthalle einen Spiegel in mich selbst zu entdecken.

Auf dem Weg nach unten betrachte ich noch einmal die große Leinwand im Flur, nun im puren Licht. Mir fallen Menschen auf, die sich an den Händen halten, Sterne, Mond und Sonne, Augen, zwei Spiralen, die miteinander kombiniert das Unendlichkeitszeichen ergeben. Aber am Eindrucksvollsten stellt sich für mich der Handabdruck dar – es könnte auch meine Hand sein. Sich als Teil von etwas zu fühlen, dessen Spur bisher nirgends im eigenen Leben auftauchte, ist wahrlich eine wundervolle Energie für neue Erfahrungen.

Die Ausstellung im Kunstwerk Nussdorf zeigt wieder im Kleinen, wie sich scheinbar einzelne Leben miteinander verknüpfen und in ihrer Folge Zeiten, Kulturen und Menschen verbinden.

Rezension von Coline Weber